Einleitung

Die Lotgeschichte ist die weibliche Variante der Ödipustragödie. Zwei Töchter machen ihren Vater schwer betrunken und zeugen anschließend Kinder mit ihm. Wie in der Ödipusgeschichte wird vorher ein Elternteil beseitigt. In der biblischen Saga ist es die Mutter, die beim Vernichtungsakt Gottes während der  Flucht aus der zum Untergang verdammten Stadt Sodom in Flammen aufgeht und zur Salzsäule erstarrt.  Mit dem Tod der Mutter ist zugleich die Familie Lot im Mannesstamm beinah erloschen. Es gibt keine Aussicht mehr auf einen männlichen Nachfolger,  der die Genealogielinie fortführt. Lot ist alt und hat durch die Schicksalsschläge – Verlust seines Hauses, seiner Herden und nicht zuletzt seiner Frau – jeglichen Lebensmut verloren.

Er zieht sich resigniert in eine Höhle zurück. Er ist laut Genesis 19 so sehr traumatisiert, dass er keine Stadt mehr betreten möchte. Selbst vor dem kleinen Zoar, das ihm als sicherer Zufluchtsort zugesichert wird, macht er einen großen Bogen. Er kapituliert demütig vor einem Gott, der ihm streng genommen nur Schaden zu gefügt hat. Oder lehnt er sich sogar heimlich gegen ihn auf? Ähnlich wie ein Selbstmörder, der es satt hat von Schicksalsschlägen hin und her geschubst zu werden und am Ende dem Dämon, der im jegliches Glück versagt, den letzten Triumph aus der Hand nimmt. Suizid ist auch immer eine Auflehnung gegen Gott, dem Herren über Leben und Tod. Ein Grund weshalb man früher Selbstmörder auf dem Schindacker verscharrte. Sogar noch im aufgeklärten Preußen des 18. Jahrhunderts. Den Verehrern von Kleist freut es, denn der unglückliche Dichter und seine schwerkranke Freundin Henriette Vogel haben am Ufer des Wannsees ein wunderschönes Grab gefunden.

Dass Lot überhaupt noch lebt, verdankt er seinem übermächtigen Onkel Abraham, der bei Gott ein gutes Wort für ihn eingelegt hat. Ansonsten hätte Jahwe über den Analverkehr der Einwohner erbost auch ihn vernichtet. Abraham feilscht mit Gott um jede Seele, kann aber den Untergang der Stadt nicht verhindern. Lot ertränkt  seinen Kummer in Alkohol und lebt von den Brosamen, die ihm die spärlich bewachsene Steinwüste bietet. Klassisches Pennerschicksal würde man heute sagen. Doch seine Töchter, die zugleich Töchter der „sündigen“ Stadt Sodom sind, schlagen dem Allmächtigen ein Schnippchen. Sie retten die Familie Lot durch Inzest vor dem Aussterben und machen Lot mit der Geburt zweier Söhne zum Stammvater der Moabiter und Ammoniter. Die Töchter als weibliches Pendant zu Prometheus?  So scheint es zumindest auf den ersten Blick; doch die Bibel ist eine schwammige Brühe, in die jeder hineininterpretieren kann, was er will. Auch ich werde in den nächsten Kapiteln reichlich von diesem Recht Gebrauch machen. Mit dem Unterschied, dass ich niemanden, der meine Interpretation nicht teilt auf den Scheiterhaufen schicke. Was im umgekehrten Fall auch heute noch einige Leute, wenn sie die Macht dazu hätten, mit mir gerne machen würden.

Das Pikante an der Geschichte: Der im Vollsuff gezeugte Nachwuchs wird zum Ausgangspunkt zweier Völker, die Jahrhunderte später zu erbitterten Feinden Israels werden. Sieht man in den Jordaniern die Nachfahren der Ammoniter – immerhin ist deren Hauptstadt Amman nach ihnen benannt – so hat sich in den letzten 3000 Jahren hier auf politischer Ebene, vorsichtig ausgedrückt, sehr wenig bewegt. Einem anderen Volk zu unterstellen, es wäre durch Inzest im Vollsuff entstanden, ist ebenso befremdlich, wie der Untergang einer Stadt, die nur deshalb vernichtet wird, weil sie dem im gesamten Altertum verbreiteten Analverkehr frönt, der eigentlich als „Geburtenkontrolle“ die natürlichen Ressourcen der göttlichen Schöpfung schont.

Wie in der Ödipussage gibt auch hier noch eine höhere transzendente Ebene. Der Mensch wird zum Spielball göttlicher Schicksalsmächte, denen er nicht entrinnen kann. In dieser Hinsicht  unterscheidet sich Jahwe als willkürlicher ungerechter Rachegott, der nach einem undurchschaubaren Ausleseprinzip den einen segnet und reich beschenkt, den anderen verflucht und dem Untergang weiht, kaum von seinen antiken Amtskollegen und Kolleginnen Zeus, Athene, Neptun und wie sie alle heißen. Die Frage, die sich hier zwangsläufig stellt lautet: Wie reagiert der kleine Mensch auf diese göttliche Allmacht? Durchkreuzt er den göttlichen Schöpfungs- und Vernichtungsplan? Bricht er gar Tabus? Prometheus stiehlt den Göttern das Feuer. Eva reicht ihrem Mann die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis. Kain erschlägt nach der ungerechten Behandlung durch Jahwe seinen Bruder Abel und wird gleichzeitig durch seinen Sohn Henoch zum Stammvater der städtischen Kultur. Auch Lots Töchter brechen Tabus. Sie handeln aus eigenem Antrieb. Lot selbst empfindet bei dieser Aktion keinerlei Lust; er bekommt sie gar nicht mit. Darauf legt der Schreiber der Geschichte großen Wert. Die Frage, ob man in diesem Zustand überhaupt noch zeugungsfähig ist, salopp ausgedrückt, überhaupt einen hoch kriegt,  insbesondere im fortgeschrittenem Alter, wird geschickt ausgeklammert. Von Selbstversuchen ist abzuraten. Der Frust ist vorprogrammiert.

Die Künstler der Barockzeit jedenfalls haben diesen Biblischen „Samenraub“ in ihren Bildern stets anders, sprich lustvoll interpretiert. Möglicherweise zu lustvoll. Auch darauf werde ich später ausführlich eingehen.   Die behauptete „Arglosigkeit“ des alten Lot bei diesem Inzestdrama erinnert wiederum an den Ödipusmythos. Auch der Griechische Held erschlägt seinen leiblichen Vater aus Unwissenheit und geht mit der gleichen Unwissenheit mit der Mutter ins Bett, zeugt vier Kinder mit ihr, von denen eine Tochter, Antigone, gleichzeitig zur Tabubrecherin wird, in dem sie alte, starre Gesetze missachtet und „menschlich“ handelt. Menschlich handeln auch Lots Töchter. Sie lassen ihren alten Vater nicht hängen, wollen nicht, dass er vor die Hunde geht. Auch er soll ein Patriarch werden, wie der von Gott gesegnete Abraham, den Jahwe zum Stammvater der Israeliten gekürt hat. So gründen sie mit Lot zwei „Nebenlinien“, ohne den Segen Gottes. Nicht der Inzest, sondern das eigenmächtige Handeln von Frauen; das ist der eigentliche Skandal. Gleichzeitig lassen sie Lot aus dem Schatten von Abraham heraustreten.

Natürlich handeln sie nicht selbstlos. Sie wollen beide ihrem weiblichen Trieb folgend Mutter werden. Warten nicht demütig wie Sara auf ein göttliches Wunder, noch wird ihnen aus Engelsmund die Entstehung eines gesegneten Gottesvolkes verheißen. Sie ficken trotzdem, und das macht sie mir – und vielleicht auch anderen – trotz Inzest irgendwie sympathisch…

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass parallel zur Lotsaga die Geschichte von Ismael erzählt wird. Auch hier taucht eine Frau als Störenfried auf, die sich wie Lots Töchter nicht herumschubsen lassen will. Hagar! Eine Ägyptische Magd, die als Leihmutter stellvertretend für die bis dahin unfruchtbare Sara einen Stammhalter gebären soll. Weil sie sich nicht zum Zuchtvieh degradieren lassen will, kommt es zum Konflikt, der schließlich mit der Geburt des Ismael, dem jedoch das Erstgeburtsrecht versagt bleibt, ihren vorläufigen Abschluss findet. Hier schlägt der Schreiber versöhnlichere Töne an. Ismael wird von Abraham gesegnet und trennt sich von seinem auf „wunderbare Weise gezeugten“ Stiefbruder Isaak im besten Einvernehmen. Dahinter steckt Kalkül. Ismael wird zum Stammvater der Araber, deren Königin Saba ein paar Jahrhunderte später von König Salomon fürstlich empfangen wird. Angesichts heutiger Konflikte klingt es wie ein Märchen aus 1001 Nacht.  Zwischen Salomons „Großisrael“ und dem den Arabern bestehen gute Handelsbeziehungen. Zumindest auf dem Papier.

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Dass aus der „Stammlinie“ des Ismael knapp 2000 Jahre später ein Prophet einen Führungsanspruch innerhalb der „Abrahamitischen Religion“ ableitet und diesen dadurch unterstreicht, in dem er in Medina 1000 Juden hinrichten lässt, zeigt den „Zündstoff“ der Abrahamgeschichte. Demgegenüber fallen die beiden ersten, im Vollsuff und Inzest entstandenen, und damit der Verachtung anheim gegebenen Nebenlinien, vergleichsweise harmlos aus. Ammoniter und Moabiter können Israel nie gefährlich werden. Dazu sind sie zahlenmäßig nicht stark genug. Ihr Lebensraum an den Höhen des Jordangrabens mit der Wüste im Rücken ist stark eingeschränkt. Sie werden spätestens bei der Landnahme der Israeliten Opfer der Hebräischen Expansionspolitik, werden zu Randprovinzen und Pufferzonen des Königreiches von David und Salomon. Sind also Opfer. Die Bibel ist jedoch aus Sicht der Sieger geschrieben, die für die besiegten, Kanaaniter, Moabiter, Ammoniter nur Verachtung übrig hat. Demgegenüber stellt das Geschichtswerk des Herodot ein Musterbeispiel an fairer Beurteilung dar, das sogar bemüht ist Griechenland ärgsten Feind, die Perser, objektiv zu beurteilen.

Umgekehrt werden Völker, die Israel bezwingen, oder deren Lebensraum einschränken, zu blutgierigen Tyrannen, wie etwa die Assyrer, Babylonier, Ägypter, Philister. Deren Feinde oder Konkurrenten wiederum, Hehiter, Phönizier, später die Perser, werden zu Freunden. Besonders die Phönizier deren Stadtkönig Hiram von Tyros,  den Tempel Salomons errichtet. Ein subtiles Zweckbündnis. Keiner kommt den anderen in die Quere. Die Phönizier sind Seefahrer, die Juden leben im Hinterland. Nicht zu vergessen, dass die Juden fast ein zu eins das phönizische Alphabet übernehmen, ohne das es wiederum keine Bibel gäbe. Die Hehiter schenken Abraham ein Stück Land um die verstorbene Favoritin Sara zu bestatten und stellen mit Uriah gleichzeitig einen nützlichen Idioten, der seine einzige Frau an Davids Harem abtreten muss und als Dankeschön in den Tod geschickt wird. Eine doppelt perfide Tat, da Uriah sich bereits nach dem Ehebruch von seiner Frau getrennt hat und sein Haus nicht mehr betreten will. Die Hehiter können also nicht vom Schreiber verteufelt werden, da sie mit Bathseba die Mutter des Salomon stellen. Zur Ehrenrettung der Bibel sei gesagt, dass im Buch Samuel das Verhalten des David scharf verurteilt wird. Der Prophet Nathan spart nicht mit Verwünschungen. David ist beim Propheten unten durch, dennoch gehört auch dieser infame Despot und mehr noch sein blutgieriger Sex und Macht besessener Nachfolger Salomon zur „Heiligen Blutslinie“ der Bibel und wird später für die Freimaurer nebst Tempel zum Symbol der Weisheit und letztlich sogar zum Sinnbild der Menschenliebe. Dass er auf hinterhältige Weise seinen Bruder Adonia ermorden lies hat seinem Image wenig geschadet. Dies nur am Rande: Wer glaubt mit der „humanitären Bibel“ auf den „blutigen Koran“ eindreschen zu können, wie das einige moderne  Flaggellanten und selbst ernannte Islamkritiker nebst ihren Miniparteien machen, der verprügelt sich am Ende selbst.

Ägypten belegt innerhalb dieses Schwarzweisrasters nochmals eine Sonderstellung, die man als „ambivalent“ bezeichnen kann. Nach dem mörderischen Kampf beim Exodus, also dem Auszug aus Ägypten, werden später wieder versöhnlichere Töne angeschlagen. „Ägypten hat euch Heimat gegeben… „ heißt es an einer späteren Stelle. Bei der Aufzählung der 700 fürstlichen Frauen von König Salomon  wird die Tochter des Pharao als erste genannt. Sowohl König Hiskia (gest. 697) als auch der letzte König aus dem Hause Juda  Zedekia (gest. 586) verbündeten sich mit Ägypten gegen Assyrien und Babylon und besiegelten damit den Untergang des letzten verbliebenen jüdischen Staates. Unabhängig davon schütten immer wieder Propheten einen Jauchekübel über Ägypten aus. Mit Prophetie hat das freilich nichts zu tun. Spätestens ab 670v. Chr. geben sich im Nilland fremde Herrscher die Klinke in die Hand. Umso erstaunlicher ist es, dass auch in dieser Spätzeit die Ägyptische Kultur unangefochten weiterblüht und herausragende Kunstwerke hervorbringt. Erst das Christentum – es gibt ein koptisches Kirchenlied das die Zerschlagung von Götzenbildern preist –   und vor allem die islamische Eroberung bringt Ägypten eine einschneidende Zäsur.

Trotz dieses gelegentlichen Hin und Herlavierens  fällt die Gesamtbilanz bitter aus: Die Bibel ist sehr einfach aufgebaut. Sie unterscheidet Juden von Nichtjuden und legt dabei nach einem sozialdarwinistischem Ausleseprinzip fest, wer gemäß einer heiligen Blutslinie, die mit Abraham beginnt zum Volke Israel gehört oder wie die Edomiter – Nachfahren Esaus – vorher aussortiert wird.  Vor Vermischung und damit „Blutsverunreinigung“ wird ständig gewarnt. Das bekommt noch König Herodes zu spüren, der als bekennender Jude Edomitischer Abstammung vergeblich um die Anerkennung „seines Volkes“ buhlt. Selbst die  Urchristengemeinde dichtet ihm einen flächendeckenden Kindermord an, obwohl er – was schlimm genug ist – nur seine eigenen Söhne umbrachte. (was übrigens auch der christliche Kaiser Constantin tat)

Die Nichtjuden wiederum werden unterschieden in Freunde und Feinde und wie im Falle des Uriah „Nützliche Idioten“. Um hier jedem Antisemitismus-Verdacht von Anfang an von mir zu weisen, möchte ich ausdrücklich betonen, dass beinah alle Mythen mehr oder weniger diesem Muster folgen. Was die Intoleranz gegenüber anderen Religionen und Kulten angeht, so wird das Judentum vom Islam bei weitem übertroffen, ebenso in seiner Aufforderung Widersacher schonungslos aus dem Weg zu räumen. Es mag widersinnig klingen, die blutrünstige Saat, die besonders im Buch Josua der Eroberung Palästinas beschworen wird, und die von vielen Forschern angezweifelt wird, geht eigentlich im Christentum erst richtig auf, wenn bibeltreue calvinistische Amerikanische Siedler nach dem vermeintlichen Vorbild der Hebräer in ihrem „gelobten Land“ die indianischen Ureinwohner stellvertretend für die Kanaaniter ausrotten.

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Dass die Jüdische Religion beeinflusst durch den Hellenismus griechische Gnosis und Neuplatonismus in ihren späteren Entwicklungsphase zu einem beispiellosen Humanismus gefunden hat und dem Urchristentum als Friedensreligion durchaus ebenbürtig ist, wurde sowohl vom Islam als auch von der Machtinstitution Kirche, nebst ihren protestantischen Ablegern kaum zur Kenntnis genommen. Martin Luther fordert in seinem Pamphlet „Von den Juden und ihre Lügen“ sogar ihre Ausrottung und wird damit zum geistigen Vordenker des späteren Holocaust. Bei den letzten Reichstagswahlen erhielten die NSDAP vor allem in Protestantischen Gegenden wie Hessen, Niedersachsen, Schleswig Holstein, sowie in Ostdeutschen Gebieten erdrückende Mehrheiten.

Das spätjüdische Henochbuch, das die Lücke zwischen Alten und neuem Testament schließt und statt des Rachegottes Jahwe einen gütigen Gott entwirft, der sich aller Menschen erbarmt und sogar die Seelen der Tiere in sein Reich aufnimmt, hat nicht Aufnahme in unsere Bibel gefunden. Ebenso wenig wie die weisen Texte der Essener, die – und hier schließt sich der Kreis – in der Nähe der untergegangenen Stadt Sodom Zuflucht gefunden haben. Beide spätjüdische Bewegungen, die Henoch-Gemeinden in Galiläa als auch die Essener – auch als Täufergemeinden bekannt- sind die direkten jüdischen Vorläufer des Christentums. Jesus sowie seine Brüder Jakobus und Johannes gehörten einer Synagogengemeinde an in dem das Henochbuch gelehrt wurde. Johannes der Täufer wiederum war Mitglied der Essenergruppe an der Jordanmündung.

Die heute im Zuge des so genannten „Interreligiösen Dialoges“ beschworene Bezeichnung der drei „Abrahamitischen Religionen“ ist kompletter Widerspruch in sich. Es gibt nur eine Abrahamitische Religion, eben die des Abraham; und die ist einzigartig. Ihre Einzigartigkeit ist ihr Markenzeichen und ihr Hauptmerkmal. Ihr Leitsatz lautet: ES KANN NUR EINEN GEBEN! Das alte Testament ist nicht für spätere Theologische Fakultäten geschrieben worden, sondern für die Leute, die es vor Ort lesen und hören sollen, für das Volk Israel. Die Bibel ist daher vor allem „mythischer Nationalepos“. Und dieser stellt wie alle Mythen dieser Welt fünf zentrale Fragen: Woher kommen wir? Wer sind wir? Und vor allem: Wie unterscheiden wir uns von anderen? Wer gehört nicht zu uns? Wer sind unsere Feinde?